Schuld
Wenn es um die Frage geht: Hat die Erkrankung u.U. seelische = psychische Wurzeln, dann steht dieser Frage die folgende Aussage gegenüber: „Krebs ursächlich auf psychische Faktoren zurückzuführen, ist nicht nur absurd, sondern auch gefährlich. Dieser Trugschluss bringt Kranke in den Verdacht, eine Art mentaler Mitschuld zu tragen.“ (DER SPIEGEL – WISSEN; 3/2014, S.15)
Da mir diese Argumentation schon öfter begegnet ist, möchte ich sie an dieser Stelle aufgreifen und genauer analysieren:
Vorab: Ohne Fragen zu stellen, gibt es keine Antworten. Wissenschaftler müssen Fragen stellen! Sie sprechen dann von Hypothesen, die überprüft werden sollen. Oder sie entwickeln Theorien, für deren Gültigkeit sie Hinweise suchen. Die Frage lautet dann: Trifft meine Hypothese zu, oder muss ich sie verwerfen? Kann ich meine Theorie beweisen, oder wird sie von den Fakten widerlegt? Die Frage nach einer möglichen Beteiligung psychischer Faktoren an der Entstehung einer Krebserkrankung ist also wissenschaftlich sinnvoll, ja, sie ist notwendig, wenn wir ein vollständiges Bild erhalten wollen – zum Wohl zukünftiger Krebspatientinnen und Patienten. Es geht also um die Frage nach den Ursachen einer Krebserkrankung, es geht nicht um Schuld.
Um eine Schuld zu begründen, bedarf es eines Verstoßes gegen eine Regel, gegen ein Gesetz. Und dann bedarf es einer Entscheidung, z.B. durch ein Gericht, ob die Regelverletzung tatsächlich erfolgt ist und dem „Täter“ zuzuordnen ist. Hier, in der Situation eines Krebspatienten, könnte die Regel lauten: Lebe gesund, nimm keine Schadstoffe zu dir! Pflege deine Psyche, lebe ein glückliches, harmonisches Leben! Dann würde der Vorwurf lauten: Du hast zu viele Schadstoffe (z.B. Asbest) aufgenommen / du hast deine Psyche verkommen lassen, deshalb bist du Schuld an deiner Erkrankung. – Ich denke, schon allein diese Vorwürfe sind fragwürdig, und es würde sich auch kein Richter finden, der hier einen Schuldspruch fällt.
Ein anderer Aspekt ist die Frage nach der Verantwortung. Jeder Mensch kann und sollte sich fragen: Bin ich der Verantwortung, die ich für mich und mein Leben habe, gerecht geworden? Letzten Endes kann diese Frage sich jeder Mensch nur selbst stellen und beantworten. Wollte man hier u.U. von Schuld sprechen, so wäre der Mensch Opfer, Täter und Richter in einer Person – das macht aber keinen Sinn.
Schuldgefühle
Es ist allerdings möglich, dass ein Patient Schuldgefühle entwickelt: was habe ich „falsch“ gemacht, dass ich mit dieser Krankheit gestraft werde?
Um die Entstehung von solchen Schuldgefühlen zu verstehen, muss man wissen, dass es sich bei diesem Gefühl letzten Endes um eine frühkindliche Angst handelt, die einem bestimmten Muster folgt. Wenn ein Erwachsener dieses Muster wieder erlebt, dann reagiert er auch dem Muster entsprechend.
Hat ein Kind Eltern, die nicht oder nur eingeschränkt von Herzen lieben können und die ihre Zuwendung vom „richtigen“ Verhalten des Kindes abhängig machen, dann wird das Kind den Entzug der Zuwendung zu Recht als Bedrohung erleben. Wie soll ein Kind von ein oder zwei Jahren wissen, was die Eltern von ihm wollen? Und es ist nicht in der Lage, zu erkennen, wodurch die Reaktion der Eltern ausgelöst wurde, es kann die Reaktionen der Eltern nicht verstehen. Das Kind befürchtet, dass sich die Eltern ganz abwenden und dass es „verloren geht“.
Erwachsene suchen die Ursachen für bestimmte Ereignisse nicht nur bei sich, sondern vor allem in den äußeren Umständen. Kinder – insbesondere sehr kleine Kinder – fühlen sich als Teil der Eltern-Kinder-Welt. Damit fühlen (!) sie sich bei allem immer ursächlich beteiligt. Übersetzt in unsere Erwachsenen-Sprache heißt dies: Ich bin die Ursache für das Glück der Eltern. Oder: Ich bin die Ursache für das ablehnende Verhalten der Eltern, ich bin schlecht, ich bin schuld.
Dieses Gefühlsmuster des Kindes lautet: Ich habe Angst, ich fühle mich bedroht. Meine Eltern sind böse mit mir, weil irgendetwas schlecht ist an mir, aber ich weiß nicht, was.
Eine Krebsdiagnose kann unbewusst genau dieses Muster auch bei einem erwachsenen Menschen auslösen – die Folge sind Schuldgefühle. Die Krebserkrankung ist dann der Trigger, d.h. der Auslöser für den Patienten, sich wie ein vom Verlust der Eltern bedrohtes Kind zu fühlen – mit der verzweifelten Frage: Was habe ich falsch gemacht? Diese Krebspatienten benötigen kein Unverständnis für ihre Schuldgefühle, sondern sie bedürfen psychotherapeutischer Hilfe.
Deshalb noch folgender Hinweis: Sie sind erwachsen, Sie haben keine Schuld auf sich geladen, die Ärzte sind nicht Ihre Eltern, sie müssen nicht „brav sein“. Sie dürfen und müssen alleine über Ihren Weg zur Wiedererlangung Ihrer Gesundheit entscheiden.
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